von Gottfried Schweiger
Kindheiten sind heute digitale Kindheiten – oder, wie es auch genannt wird, mediatisierte Kindheiten. Damit sind mehrere, miteinander verbundene Aspekte angesprochen: Kinder interagieren frühzeitig mit digitalen Technologien und Medien. Das Tablet in der Grundschule mit der Lernapp, der Abend vorm TV, über dem mittels Streaminganbieter (oder via Youtube) geschaut wird , die Whatsapp-Gruppe, das Spiel auf dem Smartphone (der Eltern), die Smartwatch mittels derer Kinder nicht nur telefonieren, sondern auch getrackt werden können oder die weite Welt des Internets, mit all seinen Webseiten, TikTok, Instagram usw. Kindheiten sind aber nicht nur deshalb heute digital, weil Kinder solche Technologien nutzen, sondern auch weil Eltern, Lehrer:innen, Ärzt:innen und alle möglichen Personen und Institutionen diese nutzen, um Kinder zu überwachen, ihr Leben mit anderen zu teilen, ihnen zu helfen, Diagnosen zu stellen und sie zu behandeln., ihnen etwas zu verkaufen, sie zu beeinflussen. Damit sind, offensichtlich, eine ganze Reihe auch ethisch relevanter Fragen verbunden, darunter auch jene nach der Privatheit von Kindern. Oder um es anders zu formulieren: die Frage nach dem Wert von kindlicher Privatheit oder dem kindlichen Recht darauf.
Dafür sind einige Klärungen nötig, die sich aus der Besonderheit von Kindern ergeben. Zunächst: es ist relevant, darauf hinzuweisen, dass Kinder eine äußerst heterogene Gruppe sind, typischerweise heterogener als jene der Erwachsenen. Damit ist gemeint, dass die Unterschiede in den relevanten Fähigkeiten und Eigenschaften – insbesondere jenen, die für Privatheit und das Recht darauf wichtig sind – zwischen Kindern im Alter von drei Monaten, sechs Jahren und zehn Jahren erheblich größer sind als zwischen Erwachsenen. Diese Unterschiede sind nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ausgeprägt, etwa im Vergleich zwischen Achtzehn-, Fünfundvierzig- und Fünfundsechzigjährigen.Vom kindlichen Recht auf Privatheit zu sprechen, droht manchmal diese Unterschiede zu verwischen- auch mit Blick auf das Digitale. Allein schon deshalb, weil sich die Nutzungsmöglichkeiten digitaler Technologien radikal im Laufe der Kindheit erweitern.
Privatheit sowohl ein soziales Produkt, als auch ein Sozialisationsprodukt. Damit ist gemeint, dass es keine natürliche Demarkationslinie gibt, was darunterfallen soll und was nicht. Nicht nur gibt es große individuelle Unterschiede, was Menschen privat halten wollen, sondern auch solche, die sich aus der Gesellschaft, ihren Normen und Konventionen ergeben. Diese werden erst in der Kindheit erlernt. Zwar es gibt es durchaus eine natürliche Entwicklungslinie, dass Kinder bestimmte Formen der Privatheit für sich entdecken und einfordern. Doch auf diese gibt es, erstens keinen unverstellten Blick und zweitens prägen sich auch diese sozial variabel unterschiedlich stark aus- man denke nur an Nacktheit und wie diese gesehen, geregelt, diszipliniert wird. Der Wert der Privatheit ist daher auch weniger offensichtlich als man meinen mag. Wenn es ihn also gibt – und davon gehe ich aus – dann erschließt er sich auch vor allem im Hinblick darauf, welche Funktionen Privatheit in einer bestimmten Gesellschaft hat.
Kinder haben Rechte– auch mit Blick auf Privatheit –, doch sie besitzen sie in anderer Form als Erwachsene. Damit ist gemeint, dass kindliche Rechte sowohl danach zu differenzieren sind, was Kinder besonders macht als auch danach, in welchem Verhältnis wir sie zu Erwachsenen positionieren. Kinderrechte werden zumeist in deren fundamentalen Interessen begründet und aus diesen abgeleitet: jedes Kind braucht ausreichend Nahrung, medizinische Versorgung, Erziehung und Fürsorge und deshalb sollen sie ein Recht darauf haben. Ob und inwieweit Kinder auch solche Rechte wie jenes auf Privatheit oder Mitbestimmung brauchen, ist dann weniger einfach zu begründen. Ich nenne diese beiden, weil sie miteinander besonders eng verschränkt sind. Sowohl das Recht auf Privatheit als auch jenes auf Mitbestimmung kann als eines verstanden werden, für das Kinder Stellvertreter:innen brauchen. Also Erwachsene, die sicherstellen, dass bestimmte Informationen über Kinder privat bleiben gegenüber bestimmten Dritten oder dass ihre Stimme gegenüber diesen Dritten eingebracht wird. Hier wird man etwa an das Baby denken. Bestimmte Informationen des Babys sollen privat bleiben – etwa über seine Gesundheit oder auch sein Aussehen (z.B. Fotos). Und dafür sind Erwachsene zuständig. Ebenso kann ein Baby nicht selbst mitbestimmen, was es tun will – bzw. nur so rudimentär – dass es Erwachsene braucht, die dies für es tun. Es gibt jedoch relativ früh in der kindlichen Entwicklung einen Punkt, an dem Kinder anfangen, ihren Willen zu äußern und an dem Privatheit und Mitbestimmung gegenüber anderen zu einer ethischen – mithin auch lebenspraktischen – Frage werden: Die bloße Stellvertretung reicht dann nicht mehr aus, vielmehr werden diese Rechte zunehmend auch gegenüber den Stellvertreter:innen eingefordert. Das bedeutet noch nicht, dass Kinder in der Lage wären, diese Rechte selbstständig durchzusetzen. Und es ist sicherlich so, dass Kinder als Kinder in einer viel schwächeren Position sind dies zu tun als Erwachsene. Es wäre schädlich oder zumindest gefährlich, wenn sie, ihre Rechte auf vollständige Privatheit eigenständig durchsetzen müssten. Ein Erwachsener kann typischerweise sein Smartphone privat halten, indem er es sperrt und niemandem Zugang dazu gibt; sofern wir dies einem Kind gewähren, gehen wir damit ein Risiko ein. Es ist daher fraglich, in welchem Sinne es wirklich unüberwachte Privatheit für Kinder geben darf. Ob dem nicht andere ihrer Rechte, nämlich das Recht auf Schutz vor Gefahren ihres Wohlergehens, ihrer physischen und psychischen Gesundheit, dem entgegenstehen.
Bevor ich meinen Vorschlag skizziere, wie das Recht auf Privatheit von Kindern dennoch zu retten ist, möchte ich einen weiteren Aspekt einbringen, der für das Digitale zentral erscheint. Es gilt zu fragen: Privatheit wem gegenüber? Gegenüber dem Staat, der Öffentlichkeit, gegenüber Firmen und Unternehmen oder anderen Personen (und welchen?), gegenüber den Eltern, den Geschwistern? Für alle diese wäre es lohnenswert zu erkunden, was Privatheit für Kinder meinen sollte, gerade unter der Bedingung, dass sie über fundamentale Dimensionen von Privatheit, die die meisten Erwachsenen für sich in Anspruch nehmen können, nicht bestimmen können, wie etwas ihren Wohnraum. Digitale Kindheit ist eine Kindheit, die vermittelt ist- und zwar durch Technologien, die andere für die Nutzung durch Kinder (oder Erwachsene oder Institutionen) bereitstellen und zwar auf eine Art und Weise, das ist diesen Technologien eingeschrieben, die Privatheit zu einem nicht leicht zu erreichenden Gut macht. Es macht eben einen Unterschied, ob man ein Zimmer in einem Gebäude, das durch eine Firma gebaut wurde bewohnt, oder einen Account in einer App besitzt. Die App wie der Wohnraum wurden von anderen gebaut, aber sofern keine kriminelle Energie aufgewendet wird, ist das Zimmer privat, also unüberwacht und informationssicher, und dies ist auch relativ leicht zu beurteilen – Türe zu und sie ist zu. Eine App, ein Programm oder jede beliebige Webseite ist dagegen sehr viel leichter so zu gestalten, dass sie überwacht ist, dass Informationen gesammelt werden oder auch, dass es leichter ist, diese Informationen gegen den Willen der Nutzer:innen zu beschaffen. Das ist etwas, das von den allermeisten Menschen so akzeptiert wird. Fast niemand würde in eine Wohnung ziehen, die voll mit Abhörgeraten und Kameras ist, damit der/die Wohnungsvermieter:in Informationen gewinnen kann, um diese für sich zu nutzen (auch nicht, wenn die Nutzung der Wohnung dann günstiger wäre als eine ohne Überwachung) und fast niemand würde darauf vertrauen, wenn eine Wohnung voller Überwachungstechnologien wäre, dass der Vermieter oder wer auch immer darauf Zugriff hat, diese nicht heimlich einschaltet und nur nach Zustimmung nutzt. Bei digitalen Technologien tun das viele Menschen – und natürlich auch Kinder.
Damit zurück zur Frage, was an Privatheit für Kinder wertvoll ist und wie ein Recht darauf, im Digitalen, aussehen könnte. Dafür ist es relevant zu wissen, wem gegenüber welche Aspekte des Lebens Privatheit beanspruchen sollen- unabhängig davon, ob Kinder dies selbst einfordern oder verstehen. Die Preisgabe bestimmter Informationen kann gefährlich oder riskant sein – manchmal auch erst in der Zukunft –, sodass hier dann Privatheit und deren Schutz wichtig wird. Dafür sind dann Stellvertreter:innen zuständig, sofern Kinder dazu nicht in der Lage sind – notfalls auch gegen den Willen der Kinder, sofern die mögliche Schädigung schwerwiegend sein kann. Dann gibt es jedoch auch Formen der Privatheit, die gegenüber diesen Stellvertreter:innen – zumeist sind dies die Eltern – relevant werden. Hierfür braucht es andere Argumente. Kinder brauchen geschützte Rückzugsorte, um ihre Persönlichkeit frei entwickeln zu können, denn nur in privaten Räumen können sie ungestört ihre Gedanken, Gefühle und Interessen erkunden. Das Vertrauen zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen wächst wiederum, wenn deren Privatheit respektiert wird und sie sich sicher fühlen können. Auf diese Weise können Kinder sich zu autonomen und selbstbewussten Menschen entwickeln, die Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernehmen. Sie können einüben, was es heißt, Privatheit zu haben und für sich zu nutzen. Das Recht auf Privatheit erscheint aus dieser Perspektive ein wesentlicher Baustein für eine gute persönliche Entwicklung zu sein.
Doch wie lässt sich nun kindliche Privatheit im Digitalen schützen und umsetzen? Einerseits sind Kinder nicht vollständig autonom und entwickeln noch die Fähigkeiten, Fertigkeiten und das Wissen, um selbstständig Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln. Aus dieser Perspektive lässt sich argumentieren, dass Kinder nicht denselben Schutz ihrer Privatheit verdienen wie Erwachsene, da ihnen das fehlt, was durch das Recht auf Privatheit geschützt wird. Andererseits sind Kinder in hohem Maße auf ihre Bezugspersonen und Eltern angewiesen, um vor verschiedenen Gefahren geschützt zu werden sowie jene Fürsorge zu erhalten, die für eine gute Kindheit und ein gutes Aufwachsen notwendig ist. Solche Fürsorge geht zwangsläufig mit Intimität einher und schränkt Privatheit somit immer auch ein. Aus dieser Sicht erscheint das Recht der Kinder auf Privatheit als deutlich schwächer ausgeprägt als von Erwachsenen. Ihr ihr Wohlergehen und eine gute Kindheit könnten gefährdet sein, wenn sie zu viele unbeaufsichtigte Räume, gerade auch im Digitalen, für sich haben. Was Kinder jedoch besonders macht, ist, dass sie sich entwickeln, reifer und autonomer werden – und beide Argumente gegen ein starkes Recht der Kinder auf Privatheit mit der Zeit abnehmen.
Der ethische Rahmen, den ich vorschlagen möchte, zielt darauf ab, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen. Der beste Weg, dies zu erreichen, scheint mir ein zweigleisiger Ansatz zu sein: Erstens haben Kinder das Recht, so gebildet zu werden, dass sie mit digitalen Medien verantwortungsvoll und sensibel umgehen lernen. Dies verbindet ihr Recht auf Privatheit mit ihrem Recht auf eine Erziehung und Bildung, die ihnen hilft, autonome und verantwortungsvolle Individuen zu werden. Die Verantwortung, eine solche Erziehung und Bildung zu gewährleisten, liegt sowohl bei den Eltern als auch bei den Bildungseinrichtungen. Zweitens wird dies allein nicht alle Probleme lösen – tatsächlich würde dies wahrscheinlich sowohl den Kindern als auch Eltern und den Bildungseinrichtungen zu viel abverlangen. Daher müssen bestimmte Regulierungen etabliert werden, deren Ziel es ist, anzugeben, was Kinder eigenständig tun dürfen (was unter ihr Recht auf Privatheit fällt) und wann eingegriffen werden muss. Es scheint mir hier hilfreich, hier zwischen zwei Arten der Regulierung zu unterscheiden: harte Regeln, die klare Grenzen setzen, welche niemals überschritten werden dürfen, und weiche Regeln, die flexibler sind und von Fall zu Fall bewertet werden müssen. Beispiele für harte Regeln sind Handlungen, die unter das Strafrecht fallen, wie etwa Kinderpornografie, vor denen Kinder unbedingt zu schützen sind. Beispiele für weiche Regeln sind etwa Beschränkungen der Nutzung digitaler Medien in der Freizeit, was im Ermessen der Eltern liegen kann. Solche Regeln sollten immer kindzentriert sein, das heißt, dass sie das Wohlergehen der Kinder und ihre Rechte über konkurrierende Interessen – etwa der Eltern – stellen. Sie sollten angemessen sein und auf die Reife, Fähigkeiten, Kompetenzen und Interessen der betroffenen Kinder eingehen. Außerdem sollten sie zielführend sein – also wirklich ihre angestrebte Wirkung entfalten, ohne dabei andere Rechte und Interessen der Kinder zu verletzen.
Weiterführende Literatur
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Stapf, Ingrid, Marlis Prinzing, und Nina Köberer, Hrsg. 2019. Aufwachsen mit Medien: zur Ethik mediatisierter Kindheit und Jugend. 1. Aufl. Kommunikations- und Medienethik, Band 9. Baden-Baden: Nomos.
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